Wenn Recherchieren zur Gefahr wird: Aus dem Alltag einer mexikanischen Journalistin

Journalistin Chantal Flores

Wer als Journalistin in Mexiko Fragen stellt lebt gefährlich. Für Medienschaffende ist es eines der tödlichsten Länder der Welt. Wie gehen Journalistinnen damit um? Chantal Flores erzählt über ihren Berufsalltag. Sie recherchiert zu gewaltsam verschwundenen Menschen, Gendergewalt, Menschenrechten und Migration.

Chantal Flores, 38, lebt in Monterrey, der Hauptstadt von Nuevo León. Der Bundesstaat grenzt an Texas und ist keiner der Orte, die man als Touristin besucht. Unser Gespräch findet online statt. Flores hat in Kanada Englisch und Journalismus studiert und arbeitet als freie Journalistin. Sie hat sich intensiv mit den vielen Menschen beschäftigt – meist sind es Jugendliche und Frauen – die in den vergangenen Jahren in Mexiko vom organisierten Verbrechen zum Verschwinden gebracht worden sind. Flores hat mit unzähligen Familien gesprochen, die eine Tochter oder einen Sohn vermissen. Sie hat teils ganze Wochen mit ihnen verbracht. Nahm teil an ihrem Alltag und war dabei, wenn sie in den sogenannten “Clandestine Graves”, den geheimen Gräbern, nach Überresten ihrer Angehörigen suchten. 

„Das Thema Gendergewalt ist in Mexiko so schrecklich gross geworden, dass sich viele Journalisten damit beschäftigten und dabei gezwungen wurden, auch ihre persönlich Einstellung gegenüber Frauen zu ändern.“

Chantal Flores

Die Gefahr für sie als Journalistin bestehe vor allem während der Recherche, sagt sie. “Unsere Löhne sind schlecht und gerade als Freischaffende hat man sehr wenig Geld zur Verfügung. Als ich beispielsweise für ein Interview nach Tamaulipas musste, eine der gefährlichsten Gegenden von Mexiko, konnte ich weder einen eigenen Fahrer engagieren noch die Nacht in einem Hotel in Texas verbringen, auf der anderen Seite der Grenze. Beides Verhaltensweisen, die man in der Regel aus Sicherheitsgründen macht. Ich nahm stattdessen den Bus und übernachtete bei der Mutter einer verschwundenen Person, über die ich berichtete.” 

Ihre Geschichten erscheinen auf Englisch und in ausländischen Publikationen. Als sie 2014 mit 29 Jahren begonnen habe, über die verschwundenen Personen zu schreiben, seien keine mexikanischen Medien an ihren Geschichten interessiert gewesen. “Das hat mich anfangs frustriert, doch heute ist dies für mich auch eine Sicherheitsmassnahme.” Bis jetzt hat sie als Journalistin keine Drohungen erhalten. “Aber als Frau muss ich mir viele sexistische Kommentare anhören, etwa von Polizisten, aber auch von meinen Berufskollegen, was ich besonders enttäuschend finde.” In einigen Gegenden gebe es diesbezüglich zum Glück langsam einen Wandel. “Dadurch, dass das Thema Gendergewalt in Mexiko so schrecklich gross geworden ist, mussten sich viele Journalisten damit beschäftigen und wurden dabei gezwungen auch ihre persönliche Einstellung gegenüber Frauen zu ändern.”    

„Dass bei uns solche Verbrechen passieren, brach mir das Herz. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Ich fragte mich ständig: Ist das Mexiko? Das Land der Tacos, dem Tanzen, der Kultur und der wunderbaren Strände?“

Chantal Flores

Die Gewalt und das Leid in ihren Geschichten bedeuten für Chantal Flores ein hohes emotionales Risiko. Als sie mit ihren Recherchen begann, war es vor allem Entsetzen. “Dass bei uns solche Verbrechen passieren, brach mir das Herz. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Ich fragte mich ständig: Ist das Mexiko? Das Land der Tacos, dem Tanzen, der Kultur und der wunderbaren Strände?” Sie habe während den letzten intensiven Jahren oft die Grenze zwischen Arbeit und Privatleben verloren. “Es war für mich unmöglich, eine Partnerschaft zu führen, selbst der Kontakt mit Freunden war schwierig. Sie leben in einer ganz anderen Welt, als die, die ich täglich als Journalistin sehe.”

Zurzeit ist für Flores die Berichterstattung über die verschwundenen Menschen an einem toten Punkt angelangt. „Ich kann nicht wieder und wieder die gleiche Geschichte erzählen, bei der sich nur die Namen der Opfer und ihrer Familie ändern. Um mit der Recherche weiterzukommen, brauchen wir endlich Fakten, Zahlen, Daten. Doch die Regierung lässt das nicht zu.“

Um mal eine leichtere Geschichte zu schreiben, fuhr sie kürzlich in ein Dorf, etwa eine Stunde von Monterrey entfernt: „Der Ort ist bekannt für sein Brot. Ich wusste, dass es in der Region Spannungen zwischen den Kartells, dem Militär und der lokalen Politik gibt und fuhr früh los, um abends vor Einbruch der Dunkelheit wieder daheim zu sein. Aber ich war entspannt – schliesslich wollte ich mit niemandem über verschwundene Menschen reden.“ Auf dem Heimweg geriet sie auf der Autobahn mitten in eine Polizei-Operation mit Helikoptern und Militärkonvois. „Es war mir nichts passiert. Doch mir wurde sehr deutlich bewusst, welchem Risiko man in diesem Land ausgesetzt ist. Als Bürgerin – und als Journalistin, die einfach eine Geschichte über Brot machen will.“

Die Situation der Journalis:innen in Mexiko

In der Jahresbilanz der Pressefreiheit, die Mitte Dezember 2022 erschienen ist, zählt “Reporter ohne Grenzen” mindestens elf Journalistinnen und Journalisten, die wegen ihrer Arbeit umgekommen sind. In einem halben Dutzend weiterer Fälle ist die Verifizierung noch nicht abgeschlossen. Zum Vergleich: In der Ukraine starben 2022 acht Medienschaffende. 

Dieser Text ist zusammen mit zwei anderen Porträts über mexikanische Journalistinnen im Magazin Domo erschienen. Hier könnt ihr den ganzen Artikel lesen.

Schreibe einen Kommentar